Arbeitsmarkt koppelt sich vom Wirtschaftswachstum ab
Der bisher stabile Arbeitsmarkt scheint etwas ins Wanken zu kommen. Unternehmen beginnen, Personal abzubauen. Wie sind Ihre Prognosen für 2024?
Bernhard Bereuter: Ich rechne damit, dass das Wirtschaftswachstum verhalten bleibt und sich das auf die Personalsituation in den Unternehmen niederschlagen wird. Abgänge werden nicht nachbesetzt und bestehendes Personal wird abgebaut werden. Auch in den nächsten Monaten wird sich die Wirtschaftsdynamik nicht wesentlich erhöhen, wobei ich davon ausgehe, dass die Talsohle durchschritten ist. Das führt dazu, dass wir durchschnittlich über das Jahr 2024 hinweg 500 Personen mehr in Arbeitslosigkeit haben werden, das entspricht einer Steigerung von 5,3 Prozent zum Vorjahr.
Was wir andererseits jedoch auch sehen, ist, dass das schrumpfende Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr auf die Arbeitslosenzahlen nur einen geringen Einfluss hatte. Es scheint so zu sein, dass sich der Arbeitsmarkt vom Wirtschaftswachstum abkoppelt. Was früher als goldene Regel galt, dass ein Wirtschaftswachstum von rund zwei Prozent dazu führt, dass die Arbeitslosenzahlen stabil bleiben, ist heute nicht mehr in diesem Maße gültig. Unternehmen versuchen auch in schwächeren Phasen Personal zu halten, da sie mittelfristig mit einer Verbesserung der Wirtschaftslage rechnen und die Menschen dann wieder gebraucht werden.
Am stärksten von dieser verhaltenen Wirtschaftsentwicklung betroffen sind Personen, die gering qualifiziert sind, solche, die Migrationshintergrund haben oder eine kurze Betriebszugehörigkeit aufweisen. Diese Personengruppen sind am häufigsten von Arbeitslosigkeit betroffen. Daraus ergibt sich einer unserer arbeitsmarktpolitischen Schwerpunkte für dieses Jahr, nämlich die Qualifizierung von Personen mit maximal Pflichtschulabschluss. Ein weiteres Thema ist die Bekämpfung von Langzeitbeschäftigungslosigkeit, von der vorrangig Personen betroffen sind, die gesundheitliche Einschränkungen aufweisen, gering qualifiziert sind, oder beides.
Wie lange wird diese Phase andauern?
Bereuter: Hier eine Prognose abzugeben, ist wirklich schwierig. Es sind mehrere Faktoren, die auf den Arbeitsmarkt Einfluss nehmen, die jetzt noch nicht genau beschrieben werden können. Dazu zählen beispielsweise die Entwicklung der Inflation, die Kreditvergabe, die Auslandsnachfrage oder der Inlandskonsum, Faktoren die sich insbesondere auf die Entwicklungen im Industrie- und Baubereich auswirken. In der Industrie arbeiten 26 Prozent aller unselbstständig Beschäftigten in Vorarlberg. Im Bundesländervergleich stehen wir in dieser Branche an der Spitze. Geht hier die Nachfrage aufgrund europäischer oder geopolitischer Herausforderungen zurück, hat das große Auswirkungen auf den heimischen Arbeitsmarkt.
Wir haben in Vorarlberg grundsätzlich eine hohe Exportrate, sind daher auch stärker von externen Faktoren abhängig. Zudem wird es langfristig im niedrigen Qualifizierungsbereich immer weniger Beschäftigte geben. Hier erleben wir eine Verlagerung hin zur mittleren Beschäftigungsebene, das sind vor allem Beschäftigungsverhältnisse mit Lehrabschluss. Bei personalintensiven Tätigkeiten, die nicht automatisiert werden können, wird es zu Abwanderungen kommen. Und bei denen, die automatisiert werden, werden sich die Anforderungen an das Personal ändern. Es werden weiterhin Personen beschäftigt sein, aber mit anderen Fähigkeiten. Von der Hilfskraft zur Maschinenbedienerin, zum Maschinenbediener, das wird der vorgezeichnete Weg sein. Grundsätzlich werden gering Qualifizierte eine höhere Flexibilität zeigen müssen, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können.
Eine Studie des AMS hat gezeigt, dass Jobsuchende über 50 Jahre nach wie vor seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Können Unternehmen auf dieses Potenzial verzichten?
Bereuter: Ganz klar nein. Ich bin überzeugt, dass es ein besseres Verständnis für das gesamte Arbeitskräftepotenzial braucht, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Bei erwerbsfähigen Personen über 50 Jahre ist das zahlenmäßige Potenzial am Arbeitsmarkt höher als bei jungen Menschen unter 25 Jahre. Unternehmen sollten Beschäftigte über 50 Jahre lange im Betrieb behalten, da das gesamte Arbeitskräftepotenzial immer geringer wird. Und es wird auch nicht alles durch qualifizierten Zuzug ausländischer Arbeitskräfte kompensiert werden können.
Hier braucht es eine Perspektivenerweiterung. So sind berufliche Veränderungen, beispielsweise von der Metallfacharbeiterin, vom Metallfacharbeiter zur Pflegekraft durchaus vorstellbar, wenn die Person die notwendigen Voraussetzungen mitbringt. Gerade im Bereich Pflege bieten wir über unseren Partner connexia eine ausführliche Berufsorientierung und Ausbildungsangebote an.
Ein weiteres Potenzial sind Frauen. Wie kann es gelingen, dieses Potenzial besser zu nutzen, vor allem in den handwerklich-technischen Berufen?
Bereuter: Je besser die Kinderbetreuung geregelt ist, desto höher die Bereitschaft der Frauen, das Arbeitsvolumen auszubauen. Hier braucht es Strukturen, die das ermöglichen. Allgemein fördern wir Frauen durch das Programm FiT – Frauen in Handwerk und Technik sowie durch das Programm Wiedereinstieg mit Zukunft. Dabei legen wir den Fokus auf handwerklich-technische Berufe sowie Tätigkeiten in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, also die MINT-Berufe.
Durch Beratung und spezifische Ausbildungsmodelle schaffen wir es, mehr Frauen für eine Ausbildung in männerdominierten Berufen zu motivieren. Wir nehmen beim Thema Frauen und Arbeitsmarkt eine wesentliche gesellschaftspolitische Rolle ein. Wichtiger Erfolgsfaktor ist dabei die Zusammenarbeit von Jobsuchenden, den Unternehmen sowie dem AMS. Gemeinsam finden wir individuelle Lösungen, von der Stange geht hier gar nichts. Mit unserem Angebot der Impulsberatung gehen wir auf die jeweilige Situation im Unternehmen ein, um die betriebliche Entwicklung zu fördern.
Hier kann gemeinsam erörtert werden, wie das Potenzial von Frauen im Unternehmen besser genutzt werden kann, aber auch die Weiterbildung von Mitarbeitenden oder alter(n)sgerechtes Arbeiten können Themen sein. Grundsätzlich unterstützt das Beratungsangebot Unternehmen bei allen personalwirtschaftlichen Fragen und bietet Lösungen für die betrieblichen Herausforderung der Personalarbeit.
Welche Auswirkung wird die Automatisierung, Stichwort künstliche Intelligenz, auf den Vorarlberger Arbeitsmarkt haben?
Bereuter: Das kann durchaus zu strukturellen Veränderung führen. Die Entwicklungen in diesem Bereich schreiten ja enorm schnell voran, was neue Anforderungen mit sich bringt und neue berufliche Kompetenzen verlangt. Das fordert Unternehmen, aber auch das AMS. Hier gilt es, Qualifizierungen anzubieten, die der Nachfrage entsprechen. Automatisierung bietet grundsätzlich Chancen für Unternehmen, den Standort zu sichern. Kurzfristig werden Arbeitsplätze zwar verloren gehen, auf längere Sicht werden jedoch Arbeitsplätze bei uns in Vorarlberg erhalten bleiben.
Wo eine Automatisierung nicht möglich ist, wird es zu Produktionsverlagerungen kommen. Da hängen dann auch andere Firmen dran, wie Zulieferer oder Gastronomiebetriebe. Wir weisen in unserer Berufsberatung auch explizit auf Berufe mit Zukunft hin und unterstützen durch unser Jobbarometer. Wir zeigen Berufe auf und bieten Transparenz über die Vielfalt an Ausbildungsmöglichkeiten. In der Vermittlung setzten wir mit unserem Matching mit Kompetenzen auf die Fähigkeiten der Arbeitsuchenden, gehen also weg von der Vermittlung nach Berufsbezeichnungen.
Beim AMS haben rund 50 Prozent der Arbeitsuchenden maximal Pflichtschulabschluss. Auch ein Potenzial für zukünftige Arbeitskräfte?
Bereuter: Wir sprechen hier alle Arbeitsuchenden konsequent an und informieren über das Thema Aus- und Weiterbildung. Das ist für das Jahr 2024 ein Schwerpunkt von uns. Wir zeigen die positiven Aspekte eines Lehrabschlusses oder einer höheren Ausbildung auf, wie beispielsweise ein höheres Einkommen oder bessere Perspektiven am Arbeitsmarkt. Dabei kommen wir auf unterschiedlichen Wegen in Kontakt mit den Arbeitsuchenden, ob über Informationsveranstaltungen, persönliche Beratung oder Online-Tools wie unsere Social Media-Kanäle.
Zudem bieten wir durch die Vergabe von Stipendien finanzielle Anreize, um sich einer Ausbildung zu widmen. Ich denke, dass wir mit unseren Aktivitäten zwischen zehn und fünfzehn Prozent dieser Personengruppe erreichen und sie für eine Qualifizierung gewinnen können. Das wird zwar den Arbeitsmarkt nicht umkrempeln, aber sicher dazu führen, den Fachkräftemangel etwas abzuschwächen. Den Arbeitsuchenden sollte auch bewusst sein, dass mit der Bereitstellung dieser Ausbildungsmöglichkeiten eine riesige berufliche wie persönliche Chance verbunden ist. Das ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Mit einer guten Ausbildung ist die Wahrscheinlichkeit auf eine durchgängige Erwerbstätigkeit wesentlich höher und die Gefahr, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, viel geringer. Und es ist weiterhin so, dass Arbeitslosigkeit die wirtschaftliche Existenz einer Person gefährdet und Grund für Überschuldung und Armut ist. Als AMS leisten wir hier einen wichtigen Beitrag, um das zu verhindern.
AMS Berufsinfomat
Der AMS Berufsinfomat beantwortet Fragen rund um das Thema Berufe, Aus- und Weiterbildung. Er nutzt fortschrittliche KI-Technologie zur Formulierung dynamischer Antworten. Probieren Sie es aus!
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